Wandernde Wundernieren

Wandernde Wundernieren

Einem Bonmot des niederländischen Journalisten Simon Carmiggelt zufolge ist das Kamel ein „Tier, das am letzten Schöpfungstag zusammengestellt wurde, aus den Teilen, die noch übrig waren“. Diese despektierliche Sichtweise wird jedoch durch die außerordentlichen Fähigkeiten dieses Geschöpfs derart eindrucksvoll entkräftet, dass es sich vermutlich in Wirklichkeit andersherum verhielt.

Auf dieser Postkarte aus dem Pariser Zoo ist gut zu erkennen, dass das Jungtier noch gar keinen Höcker hat, während die wohlgenährte Mutter ihre Fettreserven aufrecht trägt.

Herkunft Nordamerika

Den Anfang nahm die Geschichte des Kamels vor rund 40 Millionen Jahren im Norden des amerikanischen Kontinents, der Urheimat des Prototylopus. Dieses kleine Kerlchen von der Größe eines Hasen gilt als erster Vorfahre der Kamele. Aus ihm entwickelten sich sowohl die sogenannten „Altweltkamele“, das zweihöckrige asiatische Kamel und das afrikanische Dromedar, als auch die als „Neuweltkamele“ bezeichneten Lamas, Alpakas, Vikunjas und Guanakos. Diese geografischen Zuordnungen sind moderne Behelfskonstruktionen, wie etwa der Fund von 3,5 Millionen Jahre alten Knochen eines giraffenartigen Proto-Kamels auf der nordkanadischen Ellesmere-Insel beweist. Dieses Tier war von sehr viel höherem Wuchs, als unsere heutigen Kamele, besaß jedoch anders als sie noch gar keinen Höcker. Man vermutet, dass die nordamerikanischen Kamele sich über die Beringstraße nach Asien ausgebreitet haben. Kurz vor der Überflutung dieser Landbrücke am Ende der letzten Eiszeit nahm allerdings noch eine andere, latent parasitäre Lebensform diese Route in entgegengesetzter Richtung: der Mensch. Möglicherweise ist er dafür verantwortlich, dass in Nordamerika etwa zeitgleich alle großen Landsäugetiere ausstarben, so auch die nordamerikanischen Kamele.

Baktrische Kamelbullen, wie dieses stattliche Tier aus dem Berliner Zoo, wiegen bis zu einer Tonne, Weibchen oft nur die Hälfte. Das Winterfell kann regelrecht abgeworfen werden.

Camelus ferus & Co.

Die trockenen Fußes nach Ostsibirien emigrierten Ur-Kamele fanden in ihrer neuen Heimat ziemlich extreme Lebensräume vor – und passten sich meisterhaft daran an. Die noch heute im äußersten Nordwesten Chinas und dem Südwesten der Mongolei lebenden und vom Aussterben bedrohten Wildkamele (Camelus ferus) gelten als die ursprünglichsten Vertreter ihrer Art in Asien und Afrika. Sie ähneln dem zweihöckrigen Baktrischen Kamel, das im Deutschen auch den wenig charmanten Namen „Trampeltier“ trägt, weisen aber genetisch deutliche Unterschiede auf.

Wildkamel, Trampeltier und Dromedar sind zusammen mit ihren südamerikanischen Verwandten Vertreter der Paarhufer, wie etwa auch die Rinder und Schweine. Allerdings bilden die Kamele die einzigen Vertreter der Unterordnung der Schwielensohler. Ihre elastischen Fußballen sind ideal zur Fortbewegung über Sand oder Geröll, allerdings anfällig bei zu feuchten Böden. Diese augenfällige Spezialisierung auf trockene Regionen findet sich auch bei den anderen Eigenarten der Kamele.

Einhöckrige Dromedare sind deutlich schmächtiger als ihre ­asiatischen Verwandten. Die 300 bis 700 Kilo schweren Tiere werden in Arabien und Nordafrika auch für Rennen verwendet.

Fettberge mit Hochleistungsnieren

Ihre Fähigkeit, über viele Tage ohne Wasser auszukommen und sich im Gegenzug bei Gelegenheit mehrere hundert Liter Flüssigkeit in kürzester Zeit einzuverleiben, ist allgemein bekannt. Allerdings hält sich hartnäckig das Gerücht, das Wasser würde in den Höckern eingelagert. Vielmehr handelt es sich bei den charakteristischen Erhebungen um Fettreserven. Bei Neugeborenen, sehr alten oder ausgehungerten Tieren hängen die Höcker daher schlaff herunter. Das Wasser hält das Kamel auf ganz einfache Weise im Körper: Es trennt sich nur widerstrebend von ihm. Und dafür sind die sehr leistungsfähigen Nieren verantwortlich. Diese schaffen es nämlich, Urin mit minimalem Wassergehalt zu produzieren, sodass das Kamel auf diesem Weg nur wenig Flüssigkeit verliert. Gleiches gilt für den Kot. Die Organe sind derart spezialisiert, dass die Tiere sogar bedenkenlos Salzwasser trinken können. Fast jedes andere Säugetier würde verenden. Sogar das Blut von Kamelen ist dicker, und die roten Blutkörperchen sind daher anders geformt. Um die extremen Temperaturen der heißen Wüsten und eisigen Bergregionen zu ertragen, können die Tiere ihre Körpertemperatur anpassen. Zwischen 30 und 41 Grad Celsius sind nicht ungewöhnlich. Zum Schutz vor Schnee und Sand verfügen Kamele über außergewöhnlich lange Wimpern und verschließbare Nasenlöcher.

Bevor es Straßen gab, wurden die Kamele als Lasttiere verwendet. Bis zu 250 Kilogramm tragen sie über 35 Kilometer am Tag, Dromedare hingegen nur 150 Kilo, dafür aber über 50 Kilometer.

Antike Transporter

Domestizierte Kamele sind seit rund 4500 Jahren überliefert. Anfangs hauptsächlich als Milch- und Fleischlieferanten beliebt, die gleichzeitig Wolle und Brennmaterial lieferten – nämlich den trockenen Kot – rückte später ihre Rolle als Reit- und Lasttiere stärker in den Vordergrund. Die Seidenstraße zwischen Europa und China wäre ohne Kamele undenkbar. Es existieren römische Berechnungen, aus denen hervorgeht, dass der Warentransport per Kamel rund 20 Prozent günstiger war als per Esel, Maultier oder Pferd. Solche Argumente zählten schon damals. Bis heute werden mehrere Millionen Kamele als Haustiere gehalten. Vom zweihöckrigen Wildkamel leben aber nur noch weniger als 1000 Tiere, während das Ur-Dromedar längst ausgestorben ist. Die im 19. Jahrhundert nach Australien importierten Dromedare beweisen hingegen, dass sie jederzeit neue Lebensräume erobern können – sehr zum Leidwesen der Australier.

Quellen: Die abgebildeten Karten wurden uns von „www.ansichtskartenversand.com“ zur Verfügung gestellt.


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Authored by: Jan Sperhake

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