Eine Rentier-Verschwörung

Eine Rentier-Verschwörung

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Eine sogenannte Künstler-Ansichtskarte präsentiert auf etwas süßliche Weise die tiefe Verbundenheit der skandinavischen Samen mit ihren ­Rentieren.

Weihnachten ist ein einziges großes Durcheinander. Wenn man bedenkt, mit welchem Furor zuweilen selbsternannte Verteidiger des christlichen Abendlandes ihre eher ins Infantile gehende Vorstellung von Kultur verteidigen, ist es umso unverständlicher, wie sie es zulassen konnten, dass das zentrale Fest des Christentums über die Jahrhunderte bis zur Unkenntlichkeit unter einem wollmausartigen Wust wesensfremder Symbole und Bräuche verschwunden sind. Das Datum des Weihnachtsfestes entstammt bekanntlich dem Mithras-Kult, ebenso bediente sich die christliche Ikonografie seines Heiligenscheins, des Kreuzes und des Abendmahls mit dem kompletten Sonntag obendrein – „dies solis“, Tag des Sonnengottes „sol invictus“, eben jenes Mithras.

Ein kirchenpolitischer Karrierist namens Tertullian verwandelte per Federstrich eine Truppe Sterndeuter in die Heiligen Drei Könige, der Renegat Martin „Der Reformator“ Luther fabulierte freihändig das Christkind hinzu, der europäische Geldadel steuerte Tannenbäume bei, und eine böse braune Brause verurteilte den Heiligen Nikolaus dazu, bis ans Ende aller Tage als Botschafter hemmungsloser Konsumorgien durch die Fußgängerzonen zu lärmen, dass einem ganz santaklaustrophob zumute werden mag. Brauchten wir wirklich noch ein Rentier?

Ambitionsloser Geselle

Das Rentier erfreut sich unter den Nomaden des Nordens seit Jahrtausenden größter Beliebtheit. Sein Fleisch ist nahrhaft, sein Fell schön warm, und das zugängliche und leicht devote Wesen des Unisex-Hornträgers macht es selbst im halbgezähmten Zustand zu einem idealen Last- und Zugtier. Ansonsten lässt es jedoch jegliche Ambition vermissen, in irgendeiner Weise in fremden Religionen herumzupfuschen.

Doch im Schicksalsjahr 1821 rückte das Rentier erstmals in den Fokus der weih­nachtlichen Gemeinde. In einem US-amerikanischen Festtagsbuch für Kinder erschien ein Gedicht, in dem ein gewisser „Santeclaus“ mit seinem rentierbetriebenen Schlitten über die Dächer saust. Zwei Jahre später folgte der nächste Schlag – erneut unter dem Deckmantel der Anonymität. Eine New Yorker Zeitung veröffentlichte das augenscheinlich von seinem Vorgänger inspirierte Gedicht „Ein Besuch des Heiligen Nikolaus“. Wieder nähert sich darin ein alter Mann im Schlitten und dringt heimlich in die Wohnungen der Menschen ein. Dort steckt er Süßigkeiten in die Socken der Bewohner – eine olfaktorische Gemeinheit.

Auch die Rentiere eskalieren. Ihrer sind es bereits acht. Die Spur schien damals in die Niederlande zu führen, tragen doch zwei der Tiere die Namen „Dunder“ und „Blixem“, zeitgenössisch Holländisch für Donner und Blitz. Heute gilt allerdings der US-amerikanische Professor für Orientalistik und griechische Literatur Clement Clarke Moore als Hauptverdächtiger.

Alarmstufe Rotnase

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Diese historische ­Festtagspostkarte zeigt Santa Claus mit seinem Rentiergespann. Sein Name stammt aus dem Niederländischen. Dort heißt er ­„Sinterklaas“.

Nachdem das Rentier so mit dem Trojanischen Pferd der Lyrik einen kleinen, aber feinen Platz in der amerikanischen Weihnachtsfolklore besetzen konnte, ereignete sich bald etwas, was man getrost als feindliche Übernahme des Weihnachtsfestes bezeichnen kann. Im Jahre 1939 grübelte ein unterbezahlter Werbetexter in Chicago über einer Weihnachtsgeschichte. Der Chef eines Textilhandelsunternehmens hatte ihn beauftragt, ein Büchlein mit Ausmalbildern zu entwerfen. Doch Robert L. May war wenig weihnachtlich zumute. Seine Frau lag im Sterben, die Krankenhauskosten hatten einen unüberwindlichen Schuldenberg auflaufen lassen – allein seine vierjährige Tochter ließ ihn nicht die Hoffnung verlieren. Sie war es auch, die ihren Vater auf ein Rentier als Titelfigur brachte, und aus dem geistigen wie auch realen Nebeln näherte sich ein kleines Rentier, und seine Nase leuchtete blutrot.

Audiovisuelles Armageddon

Mays Geschichte von „Rudolph, dem rotnasigen Rentier“ schlug ein wie eine Bombe. Bekanntlich führt gerade zu Weihnachten der Weg ins Portemonnaie der Eltern geradewegs durch die Herzen der Kinder. Das Malbuch verzeichnete Millionenauflagen, und die kommerzielle Ausbeute der neuen Kultfigur schien keine Grenzen zu kennen, bis ausgerechnet der Schwager Robert L. Mays zum entscheidenden Schlag ansetzte. John „Johnny“ David Marks, der später einer der berüchtigtsten Autoren von Weihnachtsliedern wurde, schrieb ein Lied über das Rentier, das seither nicht mehr aus dem Weihnachtstrubel wegzudenken ist. Die Liste der Interpreten ist lang und reicht von Harry Brannon über Schlagerikone Gene Autry, Tausendsassa Bing Crosby, Spike Jones und die Temptations bis zur unüberschaubaren Schar von Stars und Sternchen, die den Song in sämtliche Ohren hämmern, die nicht bei drei auf den Bäumen sitzen beziehungsweise mit Zuckerstangen verstopft sind.

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Aus der Reihe „Mit der Suchmaschine nach Babylon“ stammt diese Postkarte mit dem berühmten Rentier Mudicke, einer beliebten Figur aus der Berliner Morgenpost.

Nach 200 Jahren mit Weihnachtsrentieren darf gespannt dem nächsten Festtagssymbol entgegengefiebert werden. Im katalanischen Kulturkreis soll es einen Holzklotz geben, der zu Weihnachten für die Kinder kleine Geschenke auspupst. Manchmal kann einem angst und bange werden.

Die abgebildeten Karten wurden uns von „www.oldthing.de“ zur Verfügung gestellt.


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Authored by: Jan Sperhake

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