Abenteuerliches Vorhaben
Können Züge im Tunnel verkehren? Heute klingt diese Frage eigenartig. Zu Beginn des Eisenbahnzeitalters gab es aber durchaus berechtigte Zweifel. In erster Linie waren diese natürlich auf den Einsatz der Dampflokomotiven zurückzuführen. Diese stießen jede Menge Qualm und Rauch aus, der aus einer Tunnelröhre abziehen musste. Nicht immer gelang das; auch in späteren Zeiten war in manchem Tunnel der so genannte „Pfropfen“ gefürchtet, ein Bereich, in dem sich die Abgase der Dampfrösser sammelten und anreicherten. Die Lokomotivführer und Heizer wussten natürlich davon und versuchten, sich mit vor den Mund gelegten feuchten Tüchern und ähnlichen Hilfsmitteln zu schützen.
Die ersten Eisenbahntunnel waren naturgemäß kurz. Mit zunehmenden Erfahrungen im Tunnelbau – nur mit Bergwerksstollen hatte man zuvor Erfahrungen gesammelt – wagte man sich an längere Tunnel. Eine Stadt zu untertunneln und in den Röhren Dampflokomotiven einzusetzen, gehörte aber zweifellos zu den auch aus heutiger Sicht eher abenteuerlichen Vorhaben. Immerhin ist beispielsweise im Berliner Nordsüdtunnel, der nur auf wenigen Kilometern die Innenstadt unterquert, sogar der Einsatz von Dieselfahrzeugen untersagt, trotz moderner Entlüftungstechnik, trotz der Abgasreinigung.
In London trat am 7. August 1854 die Metropolitan Railway ins Leben. Sie sollte eine unterirdische Strecke zur Verbindung der Kopfbahnhöfe bauen, in denen die Fernbahnstrecken endeten. Kapitalbeschaffung und vorbereitende Arbeiten nahmen rund sechs Jahre in Anspruch. Der eigentliche Bau begann im Februar 1860. Nach nur knapp drei Jahren – heute wohl unvorstellbar – war die erste U-Bahn der Welt vollendet. Am 9. Januar 1863 feierte die geladene Prominenz, tags drauf begann der Planverkehr. Gleich am ersten Tag stiegen rund 40.000 Fahrgäste in die Züge.
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In den Folgejahrzehnten wuchs das Streckennetz stetig. Neben der Metropolitan Railway entstanden weitere Gesellschaften, die eigene Strecken bauten. 1890 ging die erste elektrisch betriebene U-Bahnlinie in Betrieb. Diese diente als Vorbild für die Umstellung der älteren Strecken, die zwischen 1901 und 1908 erfolgte. Der Wettbewerb der verschiedenen Gesellschaften beflügelte die Entwicklung aber nicht nur. Er beeinträchtigte sie auch, da es zwischen den Linien so gut wie keine Verbindungen gab, von einheitlichen Tarifen ganz zu schweigen.
Daher etablierte sich 1933 das öffentlich-rechtliche Unternehmen London Passenger Transport Board, das die Strecken nach und nach übernahm und das Netz ausbaute. Allerdings war es Ende des 20. Jahrhunderts auch über Jahre hinweg unterfinanziert; Instandsetzungen und Wartungsarbeiten verzögerten sich mit der Folge, dass Teile des Netzes Verfallserscheinungen zeigten. Zur Jahrtausendwende begriffen die Briten aber, welcher Schatz sich unter den Straßen von London verbarg. Die Modernisierung der Tube – „Underground“ ist nur die offizielle, auf dem Logo erscheinende Bezeichnung – wurde in Angriff genommen, der weitere Ausbau geplant. Daneben entstand ein S-Bahn-ähnliches System unter dem schönen Titel London Overground.
Mit 402 Kilometern Streckenlänge und 270 Stationen ist die Londoner U-Bahn heute die zweitgrößte der Welt. Nur die Chinesen übertrumpfen die Briten mit einem 420 Kilometer messenden Streckennetz. Der Begriff U-Bahn ist übrigens relativ zu betrachten. Lediglich zwei Linien, die Victoria Line und die Waterloo & City Line, verkehren heute durchgehend unterirdisch. Alle anderen verlassen die Tunnel, über die vor gut 150 Jahren noch engagiert diskutiert worden war.