„Geld und Verstand herrschen“
Vom Pietisten zum Freimaurer, vom Schwärmer zum Aufklärer: Christoph Martin Wielands Weg lässt sich auch als Geschichte seiner Epoche lesen. Als er am 5. September 1733 im oberschwäbischen Oberholzheim zur Welt kam, lag der Absolutismus schwer auf Europa. Die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten von Amerika fiel ebenso in Wielands Zeit wie die Französische Revolution und deren Entartungen. Das Ende der napoleonischen Periode zu erleben, blieb ihm indessen verwehrt. Heute vor 200 Jahren verstarb er in Weimar, damals zweifellos das wichtigste Zentrum des deutschen Geisteslebens.
Wieland stammte aus einem lutherischen Pfarrhaus und besuchte, nachdem er von Privatlehrern und an der Stadtschule von Biberach unterrichtet worden war, ein pietistisches Internat. Früh kam er mit der klassischen Literatur in Berührung und auch – eigentlich erstaunlich angesichts des Umfeldes – mit Schriften Voltaires, Bernard le Bovier de Fontenelles und Pierre Bayles. Bis er sich von seiner Herkunft befreien konnte, war es aber ein weiter Weg. Zunächst versuchte er sich an streng christlicher Dichtung und beteiligte sich gar an Streitschriften seines Lehrers Johann Jakob Bodmer gegen Johann Christoph Gottsched, einen frühen Vertreter der Aufklärung. Innerlich muss er indessen heftig mit sich gerungen haben. Keine Geringeren als Friedrich Nicolai und Gotthold Ephraim Lessing erkannten den großen Spalt zwischen der Oberfläche und den tieferen Schichten in Wielands Werken.
Womöglich war es ein privates Ereignis, dass ihn „wieder unter den Menschen“ wandeln ließ, wie es Lessing ausdrückte. Marie Sophie Gutermann von Gutershofen, seit Jahre mit ihm verlobt, heiratete 1853 für Wieland unerwartet Georg Michael Frank von La Roche. Im Folgejahr trennte sich Wieland von Bodmer und suchte den Kontakt zu Vertretern der Aufklärung. Eine gewisse Seelenverwandtschaft scheint er zum preußischen König Friedrich II. verspürt zu haben, der aufklärerischen Gedanken nahe stand, aber zugleich eine aus damaliger Sicht klassische Machtpolitik betrieb. Das Fragment „Cyrus“ lässt sich dahingehend deuten.
Wieland kehrte 1760 nach Biberach zurück und heiratete fünf Jahre darauf die Augsburger Kaufmannstochter Anna Dorothea von Hillenbrand. Die Biberacher Zeit gehörte zu den produktivsten Wielands und machte ihn im deutschen Sprachraum bekannt. Er legte Romane wie „Der Sieg der Natur über die Schwärmerei oder Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva“ und „Geschichte des Agathon“ vor, schrieb das Trauerspiel „Clementina von Porretta“ und veröffentlichte die „Comischen Erzählungen“. Daneben begann er mit der Übersetzung der Werke William Shakespeares. „Nicht Liebe und Geist, sondern Geld und Verstand herrschen in der Welt, ja wer mit den Idealen wirklich ernst macht, ist sicher, elend zu werden“, hatte Wieland erkannt.
1769 erhielt er den Ruf an die Universität Erfurt. Dort verfasste er den Staatsroman „Der goldene Spiegel“, der die Aufmerksamkeit Anna Amalia von Sachsen-Weimars fand. Sie beauftragte ihn 1772 mit der Erziehung ihrer beiden Söhne. Dass Wieland zu dem Intellektuellenkreis stieß, dem bald auch Johann Wolfgang von Goethe, Johann Gottfried Herder und Friedrich Schiller angehören sollten, verwundert angesichts der Arbeitgeberin wohl kaum. Allerdings zählte Wieland bereits zu den älteren Literaten und musste einige Kritik und manchen Spott der jüngeren verkraften. So milde und wegweisend, wie er seine literaturkritischen Arbeiten verfasste, begegnete er den Stürmern und Drängern. Goethe dankte es ihm mit lebenslanger Freundschaft.
Seine eigene Entwicklung arbeitete Wieland in der „Geschichte der Abderiten“ auf, einem so warmherzigen wie satirischen Romanzyklus, der die Geschichte einer Kleinstadt erzählt, deren Bürger sich von Priestern überzeugen lassen, in Fröschen heilige Tiere zu sehen. Nach und nach entstehen mehr und mehr Froschteiche. Dass die Reptilien zu einer Plage werden, kann sich wohl jeder vorstellen. Schließlich verlassen die Bürger ihre Stadt, um anderswo eine neue Heimat zu finden.
Auch der einstige Pietist Wieland suchte eine neue Heimstatt und trat 1806 der Loge Anna Amalia zu den drei Rosen bei, für einen Freigeist eine nachvollziehbare Entscheidung. Die folgenden Generationen konnten mit Wielands Engagement gegen politischen und religiösen Dogmatismus indessen wenig anfangen. Im 19. Jahrhundert fanden seine Werke immer weniger Leser. Fachleuten blieb er zwar ein Begriff, beim allgemeinen Publikum aber geriet er in Vergessenheit. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde er wiederentdeckt. Heute rechnet man Christoph Martin Wieland mit Goethe, Schiller und Herder zu den führenden Vertretern der Weimarer Klassik.
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