Turbulentes Albanien

Turbulentes Albanien

Der Erste Balkankrieg begann mit der Kriegserklärung Montenegros am 8. Oktober 1912 und führte zu tiefgreifenden territorialen Veränderungen. Gemeinsames Ziel der bereits unabhängigen Staaten Montenegro, Serbien, Bulgarien und Griechenland war die jeweilige Gebietserweiterung auf Kosten der Türkei. Serbien suchte zudem einen Zugang zum Meer, besetzte deshalb im November 1912 einen Küstenstreifen in Albanien zwischen Shëngjin und Durrës und bildete wenig später den Verwaltungsbezirk Drač, wo es im Zuge ethnischer Säuberungen zu grauenhaften Massakern kam.

In den kriegerischen Auseinandersetzungen spielte Essad Pascha Toptani eine maßgebliche Rolle. Als Kommandant eines Reserveheers kam der Sohn einer türkischen Großgrundbesitzerfamilie mit ausgedehnten Ländereien in Mittelalbanien in den Norden Albaniens, wo er an der Seite Serbiens und Montenegros die Stadt Shkodër belagerte.

Den dortigen Stadtkommandanten ließ er ermorden und erklärte sich selbst im September 1913 zum Gouverneur von Durrës. Bereits im Februar 1914 jedoch musste er die Macht an den zum König von Albanien ernannten Deutschen Wilhelm von Wied abgeben, dessen Herrschaft aber mit Beginn des Ersten Weltkriegs ein schnelles Ende fand. Essad kehrte kurz darauf aus dem Exil in Italien nach Albanien zurück und konnte, skrupellos wechselnde Koalitionen nutzend, seine Macht wieder ausbauen.

Archivquellen zur Postgeschichte der beiden Regime von Essad Pascha und zu den beiden serbischen Besetzungen Albaniens fehlen. Daher fasst der Autor in einem ersten Kapitel die geschichtlichen Hintergründe zusammen, um so eine Ausgangsbasis für die Beurteilung von Belegen zu schaffen. Die Materie ist deshalb so schwierig und in der Vergangenheit kaum bearbeitet worden, weil die Periode mit traumatischen Erlebnissen sowohl für Serben wie auch Albaner belastet ist.

Mit Errichtung des Essad-Regimes sah sich die Vlora-Regierung gezwungen, die Postversorgung abzugeben. Zur Frankierung dienten neu geschaffene Postsiegel in Verwendung als „Gebühr bezahlt“-Stempel sowie Fiskalmarken. Graf diskutiert en détail deren bedarfsmäßige Verwendung und kommt zu dem Schluss, dass die wenigen bekannten Belege aus Gefälligkeit befördert wurden. Ihm sei bisher „kein lupenreiner Bedarfsbrief mit einer Fiskalmarkenfrankatur bekannt geworden.“ Auf Betreiben geschäftstüchtiger Händler wurden auch Briefmarken gedruckt und Essad zur Autorisierung angeboten, was dieser jedoch ablehnte. Man findet diese Produkte versehen mit Fantasiestempeln.

Forschungslage zur Postgeschichte

Ausführlich erörtert der Autor die Forschungslage zur Postgeschichte während des zweiten Essad-Regimes und der zweiten serbischen Besetzung Albaniens – in diesem Zusammenhang kommt der bekannte Briefmarkenhändler Otto Bickel ins Spiel – und geht dabei nach historischen Phasen vor. Die Postdienste Essads und der Serben arbeiteten in einem Zweckbündnis zeitgleich nebeneinander und versorgten im Wesentlichen das jeweils kontrollierte Gebiet. Gelegentlich gab es Sendungen nach Österreich bzw. Italien. Bedarfspost ist insgesamt äußerst selten.

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Graf kommt zu dem Schluss: „Bei der Beurteilung von Belegen sollte [man] von einem Kontinuum der Möglichkeiten ausgehen, das den Bereich von ,Bedarf‘ bis ,Mache‘ abdeckt. Die verwendeten Zutaten, also Marken, Post- und Zensurstempel sind mit wenigen Ausnahmen echt.“ – Im letzten Kapitel behandelt der Autor die Postgeschichte des serbischen Rückzugs durch Albanien.

Frei von jeder einseitigen Stellungnahme liefert Graf mit seiner nach wissenschaftlichen Kriterien erhobenen Darstellung, die alle bekannte Fachliteratur heranzieht und hinterfragt und auf sämtliche großen Sammlungen zurückgreift, einen verlässlichen Kompass für die Beurteilung des oft dubiosen Briefmarken- und Beleg-Materials aus Albaniens turbulenter Zeit auf dem Weg zur Unabhängigkeit. Dabei kommt ihm seine umfassende Kenntnis der Geschichte und Kultur des Landes zugute.

Man möchte sich häufiger derart gründliche Studien zur Landeskunde und Postgeschichte wünschen!

Essad Pascha und Serbien. Postgeschichte Mittelalbaniens vom 1. Balkankrieg 1912 bis zum 1. Weltkrieg. Otto Graf, Eigenverlag 2023. ISBN 978-3-943280. 90 Seiten, Format DIN A4, ca. 120 farbige Abb., Softcover geleimt. Preis: 28 Euro + Porto 1,60 Euro (Inland). Erhältlich beim Autor: otto@skanderbeg.net.

Rainer von Scharpen

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Authored by: redaktiondbz

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